Glossen zum NZZ-Feuilleton






Von hochfliegenden Ideen, dem Kapitalismus untreu zu werden, rät eine Schweizer Qualitätszeitung ab. Eine satirische Glosse.

Die altehrwürdige Neue Zürcher Zeitung erscheint zusehends von Sorge erfüllt. "Er lebt und lebt und lebt", seufzt es dem Leser in der internationalen Ausgabe vom Samstag, dem 6. April 2019 auf Seite 22 entgegen. Auch wenn wir uns im Feuilleton befinden, handelt es sich bei dem, der da partout nicht tot sein will, obwohl er es doch sollte, um keine Figur aus Game of Thrones. Die Rede ist vom Sozialismus. Zwar liest man andernorts, dass derzeit ein ganz anderes Gespenst in Europa umgeht, aber so schwach die linken Gegenbewegungen auch sein mögen, natürlich sind sie weitaus gefährlicher als die rechten. Zumindest fürs Kapital, von dem es in der Schweiz dem Vernehmen nach reichlich gibt. Ironischerweise finden gerade unter jungen Eidgenossinnen und -genossen politische Ideen linksgrüner Fasson wachsenden Zuspruch. Und weil die Schweiz nicht Venezuela werden darf, lässt die NZZ den Autor des griffig betitelten Buches "Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung" vorrücken, um die bedrohliche Lage auszukundschaften. "Die Fiktion bleibt, der Sozialismus sei eine gute Idee, die bis jetzt nur schlecht ausgeführt worden sei", schreibt er indigniert. Nur ein Trick mache diese Fiktion möglich, und der bestehe darin, den Kapitalismus "nicht mit den realen historischen Erfahrungen sozialistischer Experimente" zu vergleichen, sondern mit der vagen Utopie einer gerechten Gesellschaft. Das sei "genauso fair, wie wenn man seine Ehe nicht mit anderen Ehen vergleichen würde, sondern mit romantischen Schilderungen in Groschenromanen aus der Bahnhofsbuchhandlung."

Liebesgrüße aus Moskau

Wie aufschlussreich können doch die Unterschiede im gewählten Vergleich sein! Der Marxismus, sagte Dietmar Dath einmal in einem Interview, liefere "einen soliden Begriffsrahmen, der durch die Geschichte der Sowjetunion und ihr unschönes Ende so wenig außer Kraft gesetzt ist wie die Aeronautik durch die Abstürze der ersten Flugmaschinen." Während der Luftikus Dietmar also schon fast abhebt, will das NZZ-Feuilleton die Ehe vor romantischen Ausbruchsversuchen bewahren und nicht einmal einen Seitensprung in die Bahnhofsbuchhandlung wagen. Geschweige denn zum Flughafenkiosk. Hier wie dort wäre auch kaum ein Werk von Karl Popper erhältlich gewesen, der von der bürgerlichen Presse gerne schlagwortartig zitiert wird, zum Induktionsproblem aber immerhin anmerkte, dass von der Beobachtung weißer Schwäne nicht darauf geschlossen werden könne, dass alle Schwäne weiß sind. Es könnte durchaus auch schwarze geben. Oder sogar rote.

Grüezi, Comandante!

Aber was liest dann der Bünzli, wenn er im Zug sitzt? Eher nicht die NZZ vom Montag, dem 8. April, in der ihm auf Seite 19 die Überschrift entgegenlachen würde "Und täglich winkt die Ehefrau", mit der Unterzeile: "Gewohnheiten machen den Alltag vielleicht grau. Aber richtig grau wird es erst, wenn wir sie verlieren." Wohl wahr, irgendein der Bahnhofsbuchhandlung entnommener Schundroman in 50 Grautönen ist nicht so lesenswert wie ein Artikel von Paul Jandl, aber sein Lob des Alltags hat schon auch gewisse SM-Nuancen. Ob's die Ehe aufpeppt, ihr allein wegen der Struktur, die sie dem Alltag gibt, dankbar zu sein für die tägliche Bondage-Session, die nur Bewegungsfreiheit genug lässt, den Kopf zu schütteln über die eigenen törichten Töchter und Söhne, wenn sie wieder mal ihr Gemüt von einem rabiaten Golden Ager wie Jean Ziegler aufpeitschen lassen? Ach, könnte man ihnen doch die Ohren verstopfen, bis sie selbst alt genug sind, um sich an den Mast binden zu lassen und ungerührt den Sirenengesängen zu lauschen! Bis dahin heißt es unbeirrt rudern, rudern, auf den Schulbänken BWL büffeln, Praktika absolvieren, Karriere machen, bis man irgendwann selbst auf der Kommandobrücke steht, und dann erst - denn es "bedarf einer intensiven und disziplinierten intellektuellen Auseinandersetzung mit der freien Marktwirtschaft, um diese zu verstehen und deren Vorzüge wertzuschätzen" (NZZ vom 10. April, Seite 19) - steuert man endlich souverän, immer mit dem Flaggschiff der konservativen Qualitätspresse vor Augen, an allen nebelverschleierten, riffumsäumten Utopias vorbei - wohin? Na chom, in den sicheren Hafen natürlich.

Musiktipp: Züri West, I verabschiedemimau




(einige Monate später)

Das Flaggschiff der konservativen Qualitätspresse bleibt auf Kurs. Und da den Passagieren, die allesamt aus unerfindlichen Gründen ihre Groschenromane zu Hause vergessen haben, langweilig zu werden droht, muss mitunter schon mal ein Animateur für Unterhaltung sorgen. Für solch verantwortungsvolle, mindestens ebenso viel Tiefsinn wie Feingefühl erfordernde Aufgabe erscheint natürlich keiner besser geeignet als der Autor des Buches "Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung". Viele Menschen, vor allem auch Intellektuelle, so ist sich der "promovierte Historiker und Soziologe" sicher, würden nur deswegen gegen den Kapitalismus opponieren, weil sie neidisch auf den materiellen Reichtum erfolgreicher Unternehmer und Manager wären und diesen daher durch krude Argumente abzuwerten trachteten. Ob derlei trotzige Ad-hominem-Reaktionen auf sachliche Kritik ein Niveau erreichen, das zumindest der Reiselektüre für unsere Kleinsten angemessen wäre, sei dahingestellt. Zeitgemäß sind sie allemal: "Total loser, so sad!", hört man es heute bekanntlich nicht nur aus der Sandkiste schallen, sondern auch aus höchsten Ämtern und nun - beinahe noch bestürzender - sogar aus dem bildungsbeflissenen NZZ-Feuilleton (zuletzt in der Ausgabe vom 20. August 2019, Seite 17). Wie tragisch, dass man auch hier schon beim letzten Kunstgriff aus Schopenhauers eristischer Dialektik angelangt zu sein scheint: "Wenn man merkt, dass der Gegner überlegen ist und man unrecht behalten wird; so werde man persönlich, beleidigend, grob." Die Vorstellung, dass sich Leute ernsthaft Gedanken machen könnten, mitunter auch solche, die nicht der Erringung persönlicher Vorteile gewidmet sind, ist dem promovierten Historiker und Soziologen offenbar fremd. Beneidenswert ist immerhin die intellektuelle Unbestechlichkeit, mit der er sich und seinen Lesern jeglichen Erkenntnisgewinn versagt.

Lost in the supermarket

Bedauerlicherweise hat in Zeiten des allgemeinen Sittenverfalls auch das nobelste Bedachtsein auf Qualität irgendwann ein Ende, und genervt von all dem respektlosen Gegröle, das das Wasser von überfüllten Stränden und sich zu weit hinauswagenden Tretbooten heranträgt, hängen die Passagiere des luxuriösen Kreuzfahrtschiffs ihre entblößten Hintern über die Reling. "In der Ungleichheit liegt Kraft", wedelt einem da schon mal eine Titelseite mit fetter Schlagzeile entgegen (NZZ vom 24. August). Und wahrlich, der Homo sapiens macht seinem Namen alle Ehre, da er nun endlich der Weisheit letzten Schluss für sich entdeckt hat: Die gesellschaftliche Energie stammt aus dem Gefälle. Wo kämen wir hin ohne das Gestrampel der vielen, die zu wenig haben und sich umso redlicher darum bemühen müssen, in den Kreis der wenigen aufzusteigen, die mit der Wochenendbeilage der Financial Times nur noch eine einzige existenzielle Frage bedrängt: How to spend it?

Penny for your thoughts

Nicht nur in sozialen Belangen, sondern auch was unsere vielleicht ein wenig überstrapazierte Umwelt betrifft, stellt das, was andere als Kern des Problems betrachten, die eigentliche Lösung dar: "Freie Kapitalmärkte sind der stärkste Antriebsmechanismus zur Bekämpfung des Klimawandels." (NZZ vom 23. August, Seite 14) Wenn Greta Thunberg das liest, investiert sie sicher gleich in Aktien brasilianischer Fleischkonzerne, und wenn's nicht hilft, braucht sie nur zweimal umzublättern, um sich mit einem Artikel "gegen die Vergöttlichung der Natur", insbesondere gegen die "religiöse Überhöhung des Klimaschutzes" trösten zu lassen (NZZ vom 23. August, Seite 16*). Gemeinhin wird eine religiöse Überhöhung zwar nicht konstatiert, wenn logische Schlüsse aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gezogen werden, sondern eher dann, wenn man dem Glauben an etwas Übernatürliches anhängt, also etwa dem an einen allmächtigen Vater oder an eine unsichtbare Hand, die alles zum Besten wendet, aber egal. Die Stimmung an Bord ist gehoben, und dank steigendem Meeresspiegel ist hier sogar noch Luft nach oben. Und am Abend - Fleischkonsum ist nicht das Problem, sondern die Lösung - gibt's Steak am All-you-can-eat-Buffet, um die brasilianische Landschaftspflege zu fördern. Ohne Rinderzucht würde - die unsichtbare Hand bewahre! - ja noch das ganze Amazonasgebiet verwalden.

Musiktipp: Rae Spoon, Come On Forest Fire Burn The Disco Down


*) Fortgesetzt wird dieser aufklärerische Kampf gegen die Apotheose des Klimaschutzes von einem medienpräsenten österreichischen Philosophieprofessor (NZZ vom 11. September, Seite 19). Eindringlich warnt er vor einer demokratiezersetzenden "Moralisierung des Politischen", die "an die Stelle von Interessen und Machtansprüchen moralische Bewertungen treten" lasse. Manchen mag der traurige Abgesang auf Machtansprüche, vor allem solche, die sich auf Kapitaleigentum, nationalistische Propaganda und militärisches Kräftemessen stützen, zwar noch ein wenig verfrüht erscheinen, aber "zumindest auf der symbolischen Ebene" nimmt das selbstgerechte Treiben der Morallobby heute bereits schmerzlich überhand und gefährdet die bodenständige Vertretung berechtigter Interessen. Zu diesen darf jenes an einer intakten Biosphäre unseres Planeten natürlich nicht zählen. Der Philosophieprofessor hält sich nicht mit einer Abklärung der verschiedenen Bedeutungen und Konnotationen des Moralbegriffs auf, auch nicht mit wissenschaftlichen Daten und den sich darauf stützenden Argumenten, die in der Diskussion um die Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten, also auch der Nutzung natürlicher Ressourcen, eine Rolle spielen könnten, und wozu auch? Ihm zufolge unterbinde Moral jede Kontroverse um Gründe und Beweggründe, Moral entziehe die Entscheidungsprozesse dem demokratischen Diskurs, Moral stelle eine eminente Gefahr dar, man gewinnt geradezu den Eindruck, Moral sei das politische Grundübel unserer Zeit, fast schon das eigentliche Böse. Und maligne wie ein streuender Tumor ist Moral zweifellos, wenn sie sich dort einschleicht, wo sie nichts zu suchen hat. Werden etwa emanzipatorische Errungenschaften der Aufklärung wie Sex, Drugs and Rock'n'Roll wieder mal von militanten Spießbürgern bedroht? Sind wir gerade erst jenseits von Gut und Böse angelangt, und nicht schon längst jenseits von Wahr und Falsch? Rührt selbstverschuldete Unmündigkeit heute daher, dass die Menschen aus lauter Ehrfurcht vor dem moralischen Gesetz in sich über harmlose Wetterschwankungen zu moralisieren beginnen, keineswegs aber weil sie profitorientiertem Marketing und nationalistischer Angstmacherei auf den Leim gehen? Gewiss! Denn wenn bereits Klimaschutz ein religiös angehauchter Begriff ist, wie der Philosophieprofessor klarstellt, wie steht es dann erst um vermeintliche Gebote der Vernunft? Die messianische Verklärung eines autistischen Mädchens, das sich zu seinem Schwarz-Weiß-Denken bekennt, entlarvt hier natürlich jeglichen Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, als gefährlich naiven Manichäismus. Es kann daher auch nicht verwundern, dass heute bekanntlich gerade im umweltbewussten Schweden, wo die Flugscham erfunden wurde, die Demokratie von autoritären Tendenzen bedroht ist, nicht etwa in Ländern wie Ungarn, Brasilien oder den USA, wo ökonomischen Verwertungsinteressen und nationalistischen Machtansprüchen glücklicherweise immer weniger von dem im Weg steht, was sich "Moral" schimpfen lassen könnte.

Videotipp: Franco Berardi in der Gesprächsreihe "Wessen Freiheit?", Secession Wien, September 2019 - Mit seiner Einschätzung der politischen Zukunft eines Boris Johnson lag Berardi ordentlich daneben, ansonsten dürfte sein Pessimusmus durchaus robust sein, etwa wenn er an jenen Moment der jüngeren Geschichte erinnert, als sich obszön offenbarte, was wirklich der Demokratie die Luft abschnürt: "Summer 2015 [...] - the summer of the Greek humiliation, the summer in which democracy has been finally destroyed in the very country, where 2500 years ago the idea of democracy had been conceived." Ein Urteil, dass wohl auch von Frank Schirrmacher, bis zu seinem Tod 2014 Herausgeber der konservativen FAZ, geteilt worden wäre, musste er doch schon 2011 anlässlich eines vereitelten Referendums in besagtem Lande feststellen, "wie massiv gerade moralische Übereinkünfte der Nachkriegszeit im Namen einer höheren, einer finanzökonomischen Vernunft zerstört werden" und wie "im Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen" die Demokratie bereits an Boden verloren hat (Demokratie ist Ramsch, FAZ vom 1. November 2011).




"[Denn] nichts als nur Verzweiflung kann uns retten!"
(Christian Dietrich Grabbe, zitiert von Theodor W. Adorno in einem Gespräch mit Arnold Gehlen)

"Nicht Apokalyptik", so die Zeit vom 14. November auf Seite 1, "scheint das primäre Problem, sondern systemische Apathie." Die Neue Zürcher Zeitung sieht das natürlich ein wenig anders. In einem weiteren Artikel, in dem sie gegen die "moralische Selbstermächtigung" anschreibt, die sich in der zivilen Klimaschutzbewegung manifestiere, werden Aktivisten ohne viel Federlesens zu gewaltbereiten Metaphysikern stilisiert ("Wo Politik war, soll Moralismus werden", NZZ vom 11. November, Seite 16). Der Feuilletonist zitiert zu diesem Behufe aus einem älteren Werk, das seiner Meinung nach die von ihm konstatierte moralistische Misere "mit grossartiger intellektueller Schärfe analysiert". Es handelt sich um ein Buch des Philosophen Hermann Lübbe aus den 1980er Jahren, mit dem Titel "Politischer Moralismus: Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft". "Politischer Moralismus", habe Lübbe erkannt, sei, "recht bedacht, das Gegenteil von gelebter Moral." Der politische Moralist pfeife "auf den moralischen Gemeinsinn, wie er sich Alltag und Gesetz spiegelt" und setze ihn "unter Aufwendung seiner intellektuellen Fähigkeiten ausser Kraft." Das klingt wie ein Kompliment, ist aber natürlich nicht als ein solches gemeint. Den einen gilt es als realitätsfremder, anmaßender Idealismus, sich "unter Aufwendung seiner intellektuellen Fähigkeiten" der gesellschaftlichen Macht des Faktischen und der in ihr herrschenden Moral zu widersetzen, den anderen als zulässige und mitunter gebotene Übung in um zivilisatorischen Fortschritt bemühter Vernunft. Wahrlich, die Debatte ist alt, wenn nicht gar zeitlos, vielleicht zurückreichend bis zur Sesshaftwerdung der Menschen. Erst vor einem halben Jahrhundert wurde sie zwischen Vertretern der Kritischen Theorie und Arnold Gehlen geführt, dem Autor des 1969 erschienenen, begriffsprägenden Werks "Moral und Hypermoral". Gehlen vertrat die Ansicht, die Menschen hätten sich zu ihrem eigenen Wohl in Ordnungen einzufügen, die vor Kritik bewahrt bleiben müssten. Laut Jürgen Habermas profilierte sich Gehlen als "der konsequenteste Denker eines gegenaufklärerischen Institutionalismus". Möglicherweise führt die NZZ auch deswegen einen so verbitterten Kampf gegen "moralische Selbstermächtigung": weil sie selbst als Institution gilt.

Dem Verfassungsschutz zur Lektüre empfohlen

Einen Tag später in selbiger Zeitung (12. November 2019, Seite 3) wurden zwei Bücher rezensiert, die dem Kapitalismus unverschämterweise das Leitbild einer gerechten - insbesondere auch umweltgerechten - Gesellschaft entgegenhalten, was ja, wie an anderer Stelle schon erwähnt, "genauso fair [ist], wie wenn man seine Ehe nicht mit anderen Ehen vergleichen würde, sondern mit romantischen Schilderungen in Groschenromanen aus der Bahnhofsbuchhandlung." Ausgesprochen unromantisch fiel besagte Bücherbesprechung aus. Schon in den ersten Zeilen wird den Verantwortlichen für solch unzumutbare Lektüren der deutsche Verfassungsschutz an den Hals gewünscht. Autoritäre Tendenzen erkennt die Rezensentin dann auch gleich selbst, allerdings nicht bei sich, sondern in den besprochenen Büchern, wird in ihnen doch die skandalöse Ansicht vertreten, die Bewältigung der Klimakrise könne nicht allein den Konsumentscheidungen Einzelner überlassen bleiben, sondern erfordere auch ein politisches Regelwerk. Und noch schlimmer, es wird sogar behauptet, unregulierte Märkte seien mit Klimaschutz unvereinbar, es bedürfe vielmehr eines ökonomischen Systemwandels. Na sapperlot, führt das nicht direkt in die staatskommunistische Planwirtschaft? In der konservativen NZZ hält sich ja einiges, so auch das eingerexte Schwarz-Weiß-Denken des kalten Krieges, auch wenn es, publizistisch in die Luft des 21. Jahrhunderts entlassen, dann doch schon etwas streng riecht. Wenn früher etwas schlecht geplant wurde, heißt das logischerweise nicht, dass Planen per se für alle Zeiten schlecht sein muss. Vor allem nicht, wenn sich die Gegebenheiten völlig verändert haben, und wir mittlerweile vor der Tatsache stehen, dass uns das planlose Wirtschaften nahe an den planetaren Ressourcenkollaps geführt hat.

Wohlstandsverwahrloste Neomarxisten

Bei den beiden Büchern, deren Lektüre die Rezensentin nur dem Verfassungsschutz empfehlen kann, handelt es sich um "Handeln statt hoffen: Aufruf an die letzte Generation" von Carola Rackete und "Vom Ende der Klimakrise: Eine Geschichte unserer Zukunft" von Luisa Neubauer und Alexander Repenning. Folgt man dem abschließenden Urteil der Rezensentin, repräsentieren diese Autorinnen und dieser Autor nur eines: "wohlstandsverwahrloste Neomarxisten". Na hallo, genau das wünsche ich mir zu Weihnachten! Ein T-Shirt mit der Aufschrift "wohlstandsverwahrloster Neomarxist". Aber was sagen eigentlich die echten Marxisten dazu? Auch in der jungen Welt wurde das Buch von Neubauer und Repenning kürzlich rezensiert. Und folgendermaßen eingeschätzt: "Das ist der Traum des sozialökologisch bewegten Kleinbürgertums westlicher Metropolen, das sich über den Klassengegensatz erhaben dünkt." Also was jetzt? Wohlstandverwahrloste Neomarxisten oder träumendes Kleinbürgertum? Eine der beiden Rezensionen muss mit ihrem Urteil wohl falsch liegen. Möglicherweise sogar beide. Kleinbürger wären in der NZZ sicher nicht so negativ aufgefallen, und Neomarxisten nicht in der jungen Welt. Des einen Schimpf ist dem anderen noch lange keine Schande. Was lernen wir daraus? Offenbar immer nur das, was wir eh schon längst wussten. Der Rest landet in säuberlich etikettierten Schubladen, bisweilen sogar den untersten.

Audiotipp: Gespräch zwischen Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen im Originalton (1965)




"Property not merely has duties, but has so many duties that its possession to any large extent is a bore. [...] In the interest of the rich we must get rid of it." (Oscar Wilde, The Soul of Man Under Socialism)

Der tägliche Aufmacher in Zeiten der Pandemie ist Angst - Angst um die eigene Gesundheit oder die von Angehörigen, Angst vor Versorgungsengpässen, Arbeitslosigkeit, finanziellem Ruin, aber auch Angst vor einer nachhaltigen Beschädigung von Grundrechten und einem weiteren Schwinden der gesellschaftlichen Immunkräfte gegen autoritäre Tendenzen, insbesondere solche zu technologisch hochgerüsteten Überwachungsregimen unter der Ägide nationalistischer Führerfiguren. Und sogar die NZZ erscheint von Angst gepackt, von einer besonderen, geradezu ausgesuchten, die vielleicht nicht von allen geteilt wird, aber umso wohler bedacht sein muss, einer Angst, die kalten Schweiß auf die gerunzelte Stirn und Druckerschwärze in großen Lettern aufs Titelblatt treibt, um dort zur flehentlichen Schlagzeile zu gerinnen: "Bitte keinen Seuchen-Sozialismus" (NZZ vom Samstag, 18. April). Wie? Soll etwa die Schweizer Uhrenindustrie verstaatlicht werden? Oder gar in anarchistische Selbstverwaltung übergehen, wie schon vor 150 Jahren von der Juraföderation gefordert? Nein, es ist der mit den Erfahrungen einer staatlich organisierten und finanzierten Seuchenbekämpfung aufkeimende Irrglaube, dass nicht alles auf der Welt über den Markt geregelt werden kann, der die Chefredaktion so verstört, passt er doch so gar nicht ins Programm, dem sie sich zum Wohle aller verschrieben hat. Und so fordert sie mit mahnender Stimme - wenn auch nicht perfektem Timing, wie die kognitiven Dissonanzen zeigen, die in der Folge selbst von eigenen Abonnentinnen in Leserbriefen geäußert werden - das, was (neben einer fetten Dividende für die NZZ-Aktionäre) am dringendsten nötig ist: Kürzungen im öffentlichen Gesundheitswesen, Steuersenkungen und eine Deregulierung der Wirtschaft. Denn nur jener Teil der Herde, der noch nicht erfolgreich gegen die Sozialismus-Seuche immunisiert ist, wird nicht begreifen, dass selbst vor einem Virus nicht alle Menschen gleich sein dürfen.

Die MNS-Maske des Roten Todes

Schon in einer früheren Ausgabe lernten wir von einem Kolumnisten, wie fahrlässig es ist, das Ideal wirtschaftlicher Gleichheit zu verfolgen, weil hier Fortschritte, "von wenigen Ausnahmen abgesehen, immer mit ungeheurem menschlichem Leid erkauft wurden", also zum Beispiel durch Kriege oder eben - Seuchen (NZZ vom Dienstag, 14. April, Seite 14). Das Buch, dem er diese "Quintessenz" entnimmt, gehört für den Kolumnisten zu jenen faszinierenden Untersuchungen, "die die Geschichte mit dem grossen Pinsel nachzeichnen". Getrübt wurde dabei sein "Lesegenuss" nur durch die "das Buch durchziehende Annahme, mehr wirtschaftliche Gleichheit sei per se besser", eine in der Tat ärgerliche, völlig unverständliche Annahme, zumindest wenn man Mitglied der Mont Pèlerin Society ist (Videotipp: Die Anstalt vom 7.11.2017). Je näher an der Gegenwart sie liegt, desto fester muss man über die Geschichte drüberfahren, will man sie "mit dem grossen Pinsel nachzeichnen" (was sich übrigens auch bei Harari zeigt). Und zumindest was ihren zukünftigen Verlauf betrifft, ist sie weiterhin Gegenstand kontroverser Skizzen. Hätten sich die Menschen aller Zeiten immer nur an der Fantasielosigkeit des eigenen Konservativismus ergötzt, wäre das Ende der Geschichte jedenfalls schon erreicht gewesen, bevor sie überhaupt angefangen hat. Ein kleiner Pinsel hätte dann auch gereicht.

Vom Nutzen und Nachteil der NZZ für das Leben

Nicht nur vor "Seuchen-Sozialismus" droht Gefahr, erschrickt man in jener Ausgabe nach siebenmaligem Umblättern auf Seite 14 ein zweites Mal, sondern auch vor "Moralviren". Nach der Diagnose eines Philosophen werden die von diesen pathologischen Keimen infizierten Gehirne auf die wahrlich kranke Idee gebracht, dass gewisse katastrophale Entwicklungen in den Ökosystemen unseres Planeten mit dessen ungehemmter Ausbeutung und Vermüllung zu tun haben könnten, und dies vielleicht einer kritischen Betrachtung unterzogen werden müsste. Bereits aus dem vordergründig nüchternen Titel eines Artikels in der New York Times ("We Made the Coronavirus Epidemic") hört der behandelnde Philosoph eine symptomatisch moralisierende Schuldzuschreibung heraus, die, wenn man nur lange genug konzentriert ins Stethoskop lauscht, sogar schon das blutrünstige Raunen von Ritualmordlegenden vernehmen lässt. Zitat: "Was der Jude im Mittelalter war, ist jetzt der Chinese in der Postmoderne." Auf ein menschengemachtes Problem hinzuweisen, trägt also bereits den Keim des Pogroms in sich. Auf das Schweinische an der Moral wies der Autor bereits in einer früheren Ausgabe hin ("Die moralische Rampensau - ein Phänotyp der Stunde", NZZ vom Samstag, 11. Jänner, Seite 16), nun wissen wir endlich: Wer Missstände anprangert, ist nicht nur eine Sau, er ist eine kranke Sau. Die Inbrunst, mit der sie heute verteufelt werden, bringen Moralisten selten auf.

Rockin' in the Free World

Mit gründlich desinfiziertem Gehirn blättert man weiter und versucht, sich nur noch sterile Gedanken zu machen, was spätestens gelingt, als man auf Seite 25, endlich im Feuilleton angelangt, auf den Ratschlag einer Profi-Influencerin stößt: "Denk an die Freiheit, die dir gehört". Kurz flammen unter einem schäbigen alten Hirnlappen Reste eines Entzündungsherds auf, und man erinnert sich an Worte wie "Nur dann bin ich wahrhaft frei, wenn alle Menschen ...", aber dann würgt die Überdosis Antiseptikum endlich den letzten Zweifel ab, und entschlossen nickend liest man, dass der Kapitalismus auch eine Krise wie diese überleben muss, "weil er uns nicht nur antreibt, sondern auch die schlechten menschlichen Impulse in für alle nützliche Bahnen lenkt", und uns überdies gestattet, "zu unternehmen, was immer wir wollen". Genau, und es ist nur schade, dass Obdachlose auf den Straßen, oder Randalierer in den Pariser Banlieues, oder auf griechischen Inseln gestrandete Flüchtlinge, oder all die prekär beschäftigten Versager wie der Paketbote Ricky (in "Sorry We Missed You" von Ken Loach) nicht die NZZ lesen, denn dann wüssten auch sie, dass sie unternehmen können, was immer sie wollen: Denk an die Freiheit, die dir gehört!




Zum Kostümverleih der Neuen Zürcher Zeitung

Die Welt befindet sich bekanntlich im brutalen Würgegriff der Tugend. Gegen die immer härter durchgreifende "Gesinnungspolizei" gibt es aber, wie uns die Neue Zürcher Zeitung vom 15. August auf Seite 1 verrät, ein probates Gegenmittel: langweilig sein. Wenn nur genügend Leute "den hohen Ton der Empörung nicht mitsingen, dann verpufft der Reiz des Radikalen." Und der "Terror der Wahrheit" gleich mit ihm. "Seien Sie also langweilig", rät die Chefredaktion ihrer Leserschaft und geht natürlich selbst mit gutem Beispiel voran. Der Fall einer von einem Hamburger Literaturfestival ausgeladenen österreichischen Kabarettistin zeige, wie "ein Klima der Einschüchterung entsteht, in dem sich viele überlegen, was sie noch sagen sollen". Man mag zwar gerade im erwähnten Fall, der im gähnenden Spätsommerloch so viele ausführliche Berichte und Kommentare provozierte wie sonst nur alpine Kuhattacken, nicht den Eindruck haben, dass "sich viele überlegen, was sie noch sagen sollen", aber zumindest wird es wohl stimmen, dass die Veranstalter jenes Festivals "die Angst vor gewalttätigen Störern" packte, nachdem "linke Kreise" der Kabarettistin Antisemitismus vorgeworfen hatten, obwohl - nun ja - die Veranstalter festhielten, dass es keinerlei Drohungen gegeben habe, weder solche mit Gewalt noch anderweitige, und die Jüdische Allgemeine oder die FAZ, die neben anderen Medien harsche Kritik am frivolen Spiel mit antisemitischen Klischees geübt hatten, nicht unbedingt zu "linken Kreisen" gehören. Aber egal, das Ganze ist in jedem Fall eine Story wert. Und wenn's der Geschichte selbst an Gehalt auch mangelt, ihre Moral ist für die Chefredaktion jedenfalls klar: "Wer das Falsche sagt, steht am Pranger." Oder eben auf der Titelseite der NZZ. Noch nicht gelangweilt genug?

Vom Shitstorm zum Scheiterhaufen

Am Pranger stand auch ein weiterer dem Vernehmen nach weniger originär kritischer als jetzt-aber-mal-halblang metakritischer Kabarettist, der zuerst wegen seiner Greta-Thunberg-Witze vom jakobinischen Pöbel als wissenschaftsfeindlicher Klimaleugner gebrandmarkt wurde, dann justament als Testimonial für eine deutsche Forschungsorganisation fungieren sollte, was einen Proteststurm auslöste, worauf die Forschungsgemeinschaft den Beitrag des Kabarettisten vom Netz nahm, nur um ihn einen Proteststurm gegen den Proteststurm später wieder online zu stellen. Es rauschen die Blätter im Wind, woher auch immer er weht, mag man sich beschaulich denken, wenn man nicht gerade die NZZ liest und erschaudert, weil es ja recht bedacht völlig nachvollziehbar ist, dass sich die Chefredaktion durch bedenkliche Geschehnisse wie die eben erwähnten "an die Bücherstapel der Nazis auf dem Berliner Bebelplatz" und an die Scheiterhaufen der Inquisition erinnert fühlt. Und erst recht durch einen Fall wie diesen: Der Norddeutsche Rundfunk hatte berichtet, dass ein als Social-Media-Mitarbeiter tätiger Oberstleutnant der Bundeswehr zu Postings eines offensichtlichen Rechtsextremen den Gefällt-mir-Button gedrückt hatte, worauf der Oberstleutnant versetzt wurde und zugab, ihm sei "ein großer Fehler" unterlaufen. Ein großer Fehler, hier von einem großen Fehler zu sprechen! Wenn die deutschen Streitkräfte die Nazis im Lande nicht mit Likes unter ihren Social-Media-Beiträgen besänftigen, werden bald wieder Bücherstapel auf dem Berliner Bebelplatz brennen, und zwar ursächlich entfacht von den brutalen Tugendwächtern des Norddeutschen Rundfunks! Manch Framing ist so brachial, dass der Rahmen das Bild sprengt.

Gutbürgerlich vs. wutbürgerlich

Das vierte und letzte Exempel, mit der die Chefredaktion ihre Thesen vom neuen Jakobinertum glaubhaft machen will, erscheint gefinkelt wie eine paradoxe Intervention. Gerade auf einer hier als Fallbeispiel fürs Treiben der "Gesinnungspolizei" angeführten Demonstration gegen vermeintliche Corona-Lügen würden neben Sprechgesängen wie "Lügenpresse, Lügenpresse" auch solche wie "Gesinnungspolizei, Gesinnungspolizei" ohneweiters durchgehen. Das gewagte Manöver, die "neuen Tugendwächter" auf einer Versammlung wütender Corona-Leugner, Reichsbürger, Rechtsextremisten und Servus-TV-Seher zu verorten, strapaziert den Sinn für Ironie dann doch so sehr, dass man fast erleichtert ist, sich wieder an die guten alten Tugendwächter halten zu können, etwa wenn sie uns wie eine NZZ-Kolumnistin am 31. August auf Seite 13 erklären, dass es "der Wohlfahrtsstaat geschafft hat, gutbürgerliche Tugenden wie Fleiss oder Eigenverantwortung und damit das moralische Fundament der Gesellschaft zu unterwandern". Wie schon der große Moralist Nietzsche in seiner fröhlichen Wissenschaft anmerkte: "Wir konstruieren ein neues Bild, das wir sehen, sofort mit Hilfe aller alten Erfahrungen, die wir gemacht haben, je nach dem Grade unserer Redlichkeit und Gerechtigkeit. Es gibt gar keine anderen als moralische Erlebnisse, selbst nicht im Bereiche der Sinneswahrnehmung." Welch hochgradige Redlichkeit und Gerechtigkeit nun darin liegt, den Wohlfahrtsstaat als Wurzel des Lasters wahrzunehmen, sei dahingestellt, ebenso wie die Frage, ob es nicht Glück im Unglück bedeutet, dass nur das moralische Fundament der Gesellschaft unterwandert wurde, und nicht auch das materielle: die gutbürgerlichen Besitzverhältnisse. Solange diese von wutbürgerlichen Ausbrüchen verschont bleiben, rückt man gerne mitsamt der Gesellschaft, deren elementar gewichtigste, buchstäblich goldene Mitte man darstellt, immer weiter nach rechts, murmelt dabei versonnen Weisheiten wie "Wahrheit ist nie absolut" und echauffiert sich nur über herumpöbelnde "Tugendwächter" und ihre vermeintliche "Cancel Culture", um von der eigenen Kanzel-Kultur herabpredigend den Teufel der Moral an die Wand zu malen und so das geneigte Publikum vergessen zu lassen, was es tatsächlich vor sich hat: eine Wand.

Korsaren des Kapitals, Freibeuter der Märkte

Wie beschränkt nur die Freiheit der Physis, nicht aber die der Fantasie ist, zeigt uns in selbiger Ausgabe vom 15. August auf Seite 10 auch ein Interview mit einem amerikanischen Ökonomieprofessor. Thema ist die Anarchie oder etwas, das mit zumindest anarchischer Terminologie einfach so genannt wird. Diese "Anarchie" betrachtet der Professor offenbar als empfehlenswerte Gesellschaftsform, worin er sich auch durch seine "Forschung über Piraten des 18. Jahrhunderts" bestätigt sieht. Kurz wundert man sich, dass in der NZZ so wohlwollend über Herrschaftsfreiheit, also auch die Abschaffung des Eigentums, das Diebstahl ist, geredet werden darf, bis man merkt, dass hier einfach ein Begriff gekapert und nebenbei seine ganze Logik über Bord geworfen wird. Dazu hisse man auf seiner gold- und sklavenbeladenen Handelsfregatte einfach die schwarze Fahne, sage sich vom Staat los und lasse die uneingeschränkte Herrschaft des Kapitals fortan unter dem Trademark der "Anarchie" firmieren. Bei dieser Vorstellung darf sogar auf einem strammen Flaggschiff der rechtskonservativen Qualitätspresse ein wenig Seeräuberromantik aufkommen.

Stürz den Becher, Likedeeler!

Dafür folgt man willfährig der von Marktfundamentalisten wie Murray Rothbard in den USA initiierten feindlichen Übernahme des traditionell linken Anarchie-Begriffs, so sinnwidrig sie auch sein mag, und versteht in kapitalistischem Surrealismus geschult unter "libertär" nicht mehr antiautoritär, sondern marktdiktatorisch, unter "Anarchie" nicht mehr Abschaffung, sondern vollständige Privatisierung gesellschaftlicher Macht, was dann ein schönes Oxymoron wie "Anarchokapitalismus" ergibt. Folgerichtig träumt der Ökonomieprofessor auch sehnsüchtig von einer profitorientierten Privatpolizei, für die der Kunde, der am meisten zahlt, bestbewachter König ist. Dem nun doch etwas skeptisch werdenden Interviewer erklärt er anschaulich, dass sich ein Bill Gates "auch ein viel schöneres Auto leisten" könne, wodurch niemand daran gehindert sei, sich "ebenfalls ein passendes, wenn auch viel bescheideneres Gefährt zuzulegen. Ähnlich wäre es mit privatisierten Polizeidiensten." Und wer sich gar keine leisten kann, darf sich vermutlich immerhin an die "Gesinnungspolizei" wenden.

Fluch der Karibik

Auch Konzernmacht sieht unser verwegener Wirtschaftswissenschaftler überaus positiv: Für ihn "tönt es verrückt, Amazon zerschlagen zu wollen". Ja, verrückt in der Tat, denn was für ein großartiger Anarchist könnte aus einem Jeff Bezos nicht werden, wenn er mit seinen Logistiksklaven im Bauch der fetten Galeere erst völlig unbesteuert durch die Weltmärkte segeln könnte! Wer sagt, dass Piraten ihre Beute immer gerecht verteilen müssen? Sie auf Schatzinseln zu verstecken, würde sich auch erübrigen, wenn die ganze Welt zum Steuerparadies geworden ist, und eine Meuterei auf der Bounty ließe sich mit privatisierten Polizeidiensten sicher problemlos niederschlagen. Was wäre das auch für eine Welt, in der es gar keine Polizei mehr gibt, die reiche Bosse vor armem Gesindel zu schützen hat, wie in manchen vielleicht tatsächlich anarchistisch zu nennenden, egalitär organisierten Seeräuberkommunen der Vergangenheit, etwa der sagenumwobenen Republik Libertatia, über die es im gleichnamigen Lied von Ja, Panik heißt: "Ich wünsch mich dahin zurück, wo's nach vorne geht."

Filmtipp: Kein Gott, kein Herr! Eine kleine Geschichte der Anarchie - Teil 1, Teil 2




(mit Schweizer Uhrmacher)

In einem Interview mit einem zeitgenössischen deutschen Philosophen stößt man unter der Voraussetzung, dass man sowieso schon schlecht gelaunt ist, auf bisweilen höchst Interessantes. Vielleicht auf etwas, das einem so herrlich abgeschmackt vorkommt wie eine traurige Gewürznelke im versifften Punsch der Winterdepression, an der man gerade würgend laboriert. Prost, kann man da nur rufen, und zu rülpsen darf man sich nach einem wackeren Schluck wohl auch erlauben, bei all dem schalen Hauch von Tiefsinn, der nach Veröffentlichung drängend aus dem Magen steigt. Ja, es ist schon ein Gfrett mit der Wahrheit! Die Hinterfragbarkeit selbst sinneseindrücklichster Tatbestände kennen notorische Kontrollzwängler vom Betrachten der Wasserhähne: Sind sie wirklich zu? Und sind alle Herdplatten ausgeschaltet? Um wie viel schwieriger wird die Wahrheitsfindung erst bei deutlich gestiegenem Abstraktionsgrad der Problemstellung! Schützen freie Kapitalmärkte wirklich das Klima? Ist materielle Ungleichheit gut für die Armen? Und was sind diese "moralischen Tatsachen", von denen sich ein deutscher Philosoph neuerdings in den Medien so felsenfest überzeugt zeigt, als wäre er auf seiner letzten Bergwanderung über in Stein gemeißelte Gebote gestolpert? Ein Faktum ist zumindest seine mediale Präsenz, und wenn der gefeierte Autor eines Bestsellers mit dem Titel "Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten" in der NZZ zum Interview gebeten wird ("Die Devise heisst: sich vom Irrsinn nicht anstecken lassen", NZZ vom 28. Oktober, S. 18 f.), einer Zeitung, die sich bekanntlich im publizistischen Widerstand gegen die Moral und vor allem ihren Fortschritt befindet, verspricht es, tatsächlich spannend zu werden.

Sofort sind die Karten offengelegt: Während die NZZ-Chefredaktion der Ansicht ist, "Wahrheit ist nie absolut", und eine Kampagne der Zeitung mit dem Claim wirbt "Keine Wahrheit ist unangreifbar", ist der Philosoph vom genauen Gegenteil überzeugt: "[E]s liegt im Wesen der Wahrheit, unangreifbar zu sein." Das fängt ja gut an! Doch bald stellt sich wachsende Enttäuschung ein. Es entwickeln sich im Folgenden nicht etwa erhellende Scharmützel um Fortschrittsbemühungen wie z.B. Konzernverantwortungs- und Kriegsgeschäfteinitiativen, mal abgesehen von der erst später auftauchenden Frage, ob es nicht eine hoffnungslos sitzen gebliebene Metapher ist, dass Volksabstimmungen als "Backpulver der Moralisierung" missbraucht würden ("Unheilige Moralisten", NZZ vom 28. November, S. 1). Der "neue Realist" scheint vielmehr darum bemüht zu sein, sich ans "Sinnfeld" der NZZ anzupassen und gemeinsam mit dem interviewenden Feuilletonleiter nach mehr wohl- als wehtuenden Wahrheiten zu suchen. Diese wären, wenn es sie gäbe, im Gegensatz zur Behauptung, sie gefunden zu haben, sogar unangreifbar, bloß: Wie erkennt man den Unterschied?

Zum Glück wird sofort klargestellt, dass das Interview in Zürich stattfindet, und dass es ein Irrtum wäre, dies abzustreiten. Sokrates hätte es nicht besser gemacht! Darüber hinaus lernt man schnell: Dass etwas für eine Tatsache gehalten wird, ist eine Tatsache. Manchmal aber nicht einmal das. Dann liegt möglicherweise eine Unterstellung vor. Wobei die Person, der etwas unterstellt wird, auch frei erfunden sein kann. Etwa wenn in weltfremden Gedankenspielen imaginären Gegnern unhaltbare Positionen nachgewiesen werden. Dass Philosophieren so einfach sein kann! "Eine Linksradikale und ein Talib diskutieren miteinander." So könnte ein guter Witz anfangen, aber unser Philosoph meint es mit seiner Liebe zur Weisheit offenbar ernst. Sagt die Linksradikale dem Talib nun, dass er sich gefälligst mit den Proletariern aller Länder vereinigen soll, anstatt sich weiterhin mit dem Opium des Volkes einzurauchen? Nein, sie will - so sieht es ihre Rolle im Gedankenspiel vor - anderen Leuten nicht "ihre" Wahrheit aufzwingen und findet daher, sie müsse akzeptieren, dass Mädchen in Afghanistan nicht zur Schule gehen dürfen. Manche NZZ-Leser dürften sich an dieser Stelle gedacht haben: Schade, dass ich nicht in Afghanistan lebe, dann würden Linksradikale vielleicht auch meine kulturelle Praxis endlich akzeptieren! Andere fragen sich vielleicht, wie es verlaufen wäre, hätte der Philosoph einem Talib ein Interview gegeben.

Ein neuer Realist und ein NZZ-Feuilletonist diskutieren miteinander.

Und der letztere wirkt noch etwas reserviert, merkt er doch an einer Stelle glatt an: "Damit haben Sie nicht ganz unrecht" - das vielleicht boshafteste Kompliment, das man einem Philosophen machen kann! Also legt sich dieser noch mehr ins Zeug, und schnell ist ein gemeinsames Feindbild ausgemacht, über das sich mit vereinten Kräften spaltenfüllend herziehen lässt: die "Vertreter der Cancel-Culture", wer auch immer das sein mag. Unter "Cancel-Culture" werden im deutschen Sprachraum publizistische Wortgefechte um kleinkünstlerische Provokationen ebenso rubriziert wie politische Instrumentalisierungen, etwa des Antisemitismusvorwurfs zur Unterbindung von Kritik an israelischer Politik. Es ist ein dürftiges Label, das in ihrer Komplexität sehr unterschiedliche Phänomene weniger erhellt als verhüllt und vor interessanteren Fragen abschirmt: Wo sind Vorwürfe berechtigt, wo schießen sie übers Ziel hinaus, oder entgleiten gar ins Hetzerische? Ist es schon "Cancel-Culture", wenn gegen Positionen einer öffentlich auftretenden Person protestiert wird? Wann liegt tatsächlich Rufmord vor, wann dient das Schlagwort nur dazu, Kritiker abzukanzeln? Wo wird Polarisierung als verkaufsfördernde Strategie inszeniert, und das vermeintlich Gecancelte vielmehr gehypt? Was treibt die öffentliche Erregungsökonomie mit ihren sich hochschaukelnden Empörungswettbewerben an? Abgesehen von der zivilisatorisch uneingehegten, infantilen bis pubertären Dynamik sogenannter sozialer Medien, mangelt es nicht auch den klassischen an gepflegter Streitkultur? Partizipiert man nicht auch dort, etwa in einer marktradikalisierten NZZ, eifrig an der Entkopplung überdrehter Diskurse von realen Gegenständen, der Zeichen vom Bezeichneten? Mit dem "neuen Realismus" scheint immerhin die passende Philosophie gefunden zu sein, wenn ihr gemäß einem Fabelwesen wie dem Einhorn ebenso viel Realität zugesprochen werden kann wie einem Sachverhalt in der materiellen Welt.

Nachdem genug gewettert wurde über imbezile Kulturrelativisten und machtgierige Vertreter der Cancel-Culture, über die rachsüchtige Hetzjagd des Mobs auf weiße, heterosexuelle Männer, über diskursiven Opfermissbrauch, Wohlstandsmaoismus, rassistische Identitätspolitik, aber auch über paranoide "Foucaultianer und Derridaisten", wird endlich ein positives Gegenbeispiel, ja, ein im Vergleich fast schon heroisch leuchtendes Idealbild vorgestellt: ein "grundsolider Schweizer Uhrmacher". Aber hoi, vor dem Hintergrund der unangreifbaren Wahrheit, dass wir uns in Zürich befinden, ist das fast schon Schleimerei! Der Schweizer Uhrmacher zweifelt, so ist sich der deutsche Philosoph sicher, "keine Sekunde daran, dass es die Wirklichkeit und die Wahrheit gibt". Das spricht zweifellos für ihn, und zwar so sehr, dass man Lust bekommt, gemeinsam mit ihm den Rütlischwur zu erneuern, diesmal aber gegen die Tyrannei all dieser verlausten, nicht ganz richtig tickenden Poststrukturalisten, die sich in ihren unsoliden, völlig dekonstruierten Gammelbuden der Verwahrlosung hingeben, ohne zu ahnen, welche Stunde ihnen gleich präzise schlägt!

Bloß was, wenn der Schweizer Uhrmacher Foucaultianer wäre?

Der neue Realist urteilt offenbar gerne differenziert, und zwar nach moralisch so fortschrittlichen Kategorien wie "gut, böse oder neutral". Zum Abschluss des tiefschürfenden Interviews wird er dann auch gebeten, nach diesem Schema ein paar "moralische Tatbestände aus philosophisch-aufgeklärt-avancierter Perspektive" zu bewerten, und wenn dies Ironie sein sollte, so ist sie zumindest sanft, vermutlich weil er den Schweizer Uhrmacher so nachdrücklich gelobt hat. Für Erstaunen sorgt immerhin, dass aus avancierter Perspektive Kunst böse sei, weil sie "zu einer Fiktionalisierung der Wirklichkeit" führe, "mit verheerenden Folgen für unsere Moral". Wettbewerb dagegen - hier ist kein Widerspruch zu erwarten - sei gut, schließlich gelte: "Märkte sind wichtig, um die Menschen als moralische Wesen weiterzubringen". Mustergültig! Da fehlt nicht viel zur völlig regelkonformen Integrierung ins vorliegende Sinnfeld (vgl. z.B. "Reiche werden reicher - das ist eine gute Nachricht", NZZ vom 30. November, S. 15). In einem Ö1-Interview gibt er übrigens ganz andere Töne von sich, etwa wenn er das rechte Hohnwort vom "Gutmenschen" kritisiert, was man Sinnfeldflexibilität oder auch einfach zielgruppengerechte Selbstvermarktung nennen könnte.

Veganismus wird ebenso neutral beurteilt wie Analsex. Während der NZZ-Interviewer letztere Einschätzung ohne weitere Fragen hinnimmt, fordert er zu ersterer eine Erklärung, und wird darüber belehrt, dass wir "zu wenig über Pflanzen wissen", um beurteilen zu können, ob nicht auch sie "eine rudimentäre Form von Bewusstsein haben", und ob "es dem Broccoli weh tut, ausgerissen und verschlungen zu werden". Der Philosoph hat zuvor schon klargestellt: Es ist "der Geist", der den Menschen gegenüber anderen Tieren auszeichnet. Und wie bescheuert muss man auch sein, diesen Geist zu hinterfragen, wenn ihn doch "der Schweizer Uhrmacher in jeder Sekunde seines Daseins aus der Innenperspektive erlebt"? Grundsolide Menschen handeln eben "stets vor dem Hintergrund ihres Selbstverständnisses - der Geist hat stets ein Bild von sich und von der Position, die er im Kosmos einnimmt." Löwen dagegen "tun nichts deshalb, weil sie denken, sie seien Löwen", sondern "sind, was sie sind" - und wissen ohne Schweizer Uhr nicht einmal genau, wie spät es ist! Unerschüttert von allen Forschungen aus der vergleichenden Verhaltens- und Kognitionsbiologie hält sich der Mensch, zumal wenn er ein Philosoph ist, der mühelos jeden Spiegeltest besteht, an das Bild, das er von sich hat. Und möge es auch vergreist sein wie das des Dorian Gray, in seinen Gedankenspielen ist und bleibt er ein ganz famoser Prachtkerl, der alle Gegner - und seien es Löwen! - widerlegt.

Nun gibt es zwar die nicht nur intuitiv recht einleuchtende, sondern auch wissenschaftlich begründete Ansicht, dass die Anatomie der Pflanzen nicht im Entferntesten der für ein Bewusstsein nötigen Hirnkomplexität nahekommt, aber selbst wenn wir schon Äpfel nicht nur mit Birnen, sondern auch Hirnen vergleichen, nein, in ihrer Leidensfähigkeit offenbar sogar gleichsetzen: Wären die zerebralen Bürdenträger, zu denen wir unglücklicherweise zählen, wirklich ebenso große Sensibelchen wie etwa die Sojabohne, aus deren Früchten sich auch feine Schnitzerl braten lassen, so müsste in diesem Fall immerhin weit weniger Grünzeug dran glauben, als wenn wir uns eigens kiloweise Soja vertilgende Pflanzenfresser heranzüchten, um dann aus ihnen herausgeschnittene Stücke zu panieren. Das könnte nebenbei auch für Ressourceneffizienz gehalten werden, hätten wir die Rechnung nicht ohne den Philosophen gemacht, der uns darauf hinweist, dass "auch der Verzicht auf Fleisch Umwelt- und andere Kosten erzeugt."

Schade, dass der Broccoli nicht Reißaus nehmen kann!

Natürlich - und nicht nur mein Gummibaum setzt mich unter moralischen Druck, dies zu sagen - sind auch Pflanzen bewundernswerte Lebewesen und mögen, wenn auch keine Gefühle im animalischen Sinn, so doch Empfindungen haben, von denen wir nichts ahnen. Ihrer unbestreitbaren Hirnlosigkeit kommen manche Behauptungen allerdings bedenklich nahe. Sollten diese auf "moralischen Tatsachen" beruhen, dann wohl nur auf solchen, von denen sich Rinder durch gezielten Bolzenschuss, Schweine mittels Elektrobetäubungszange und Schlachtmesser überzeugen ließen. Zumindest, wenn sie nicht nur ein Gehirn, sondern auch einen "Geist" hätten, und somit ein Bild von sich und von der Position, die sie im Kosmos einnehmen, was ja, wie wir vom Philosophen erfahren haben, keineswegs der Fall ist. Erstaunlich, dass diese geistlosen Viecher ohne Google Maps überhaupt von A nach B finden! Erstaunlich allerdings auch, dass ein Philosoph im 21. Jahrhundert wieder so auffällig oft von "Geist" spricht, einem sehr deutschen Begriff, der - nicht mit Esprit zu verwechseln - schon vor 100 Jahren einem alerten Kaffeehausliteraten wie Alfred Polgar schlüpfrig erschien: "Geist: Verpflichtet zu gar nichts, berechtigt zu üblem Atem. Die Qualle unter den Begriffen: fließt, will man ihn fassen, leuchtend und formlos ins tiefe Meer des Nonsens zurück."




"[C]ontradictions within capital, arising from negative value, are today encouraging an unprecedented shift toward movements against capital. These are crystallized around a new radical ‚ontological' challenge - food sovereignty above all - that destabilizes crucial points of agreement in the modern world system: What is food? What is nature? What is valuable?" (Jason W. Moore)

Leider hat das Feuilleton durch die Pandemie bislang keine erwähnenswerten Erkenntnisse gewonnen, außer vielleicht jene, dass sich das Unbehagen in der Kultur immer noch ein wenig steigern lässt. Hervorgerufen wird es durch behördlich überwachte Freiheitsbeschränkungen ebenso wie durch den verschwörungstheoretisch unterfütterten Protest gegen sie. Durch Lockdowns und noch mehr durch ihre fahrlässige Lockerung. Durch Querulanten- und Denunziantentum, aber auch durch durch Corona-Partys und anderes Scheiß-drauf-Gehabe. Gewissenhaft versucht die Vernunft, sich irgendwo zwischen Hypochondrie und Krankheitsleugnung aufs richtige Maß einzupendeln, und fühlt sich dabei selbst unpässlich genug. Die Treppenwitze der Zukunft, denen wir vergeblich zuvorzukommen versuchen, bringen uns jetzt schon in Atemnot*. Auch auf den stufenweise im Kreis führenden Escher'schen Metaebenen des Denkens, die so so hoch über den Ereignissen schweben, dass sie bereits von ihnen entkoppelt erscheinen, wird fleißig gehustet, aber um die intellektuelle Infektiosität der dort produzierten Aerosole ist es dürftig bestellt. Sie nieseln harmlos herab und verdunsten sogleich auf der Stirn, an die man sich ratlos greift: Ist da was gewesen? Das deutschsprachige Feuilleton zeigt sich zu Recht von sich selbst enttäuscht.

"Man kämpft um hermeneutische Vorsprünge, sieht seine lange Zeit ausgefeilten Positionen und Wahrheiten in der Katastrophe bestätigt. Alles wird von allen gesagt und dann noch einmal wiederholt, überboten und variiert." (Joseph Vogl)

Zum Glück meldet sich zur Rettung der Denkerzunft in der NZZ ein italienischer Philosophieprofessor zu Wort und schafft es, das Virus treffend zu charakterisieren ("Klein, fies und wirklich", NZZ vom 7. April, S. 8). Er hat, wie er gleich im ersten Satz beiläufig erwähnt, vor zehn Jahren "den Begriff des ‚neuen Realismus' geprägt" und berichtet nun von einer bemerkenswerten Beobachtung: Die italienische Bahn hat ihr gewöhnlich in den Zügen aufliegendes Printmagazin durch eine digitale Ausgabe ersetzt, um die Bahnreisenden vor der Gefahr von journalistischen Schmierinfektionen zu schützen. "Es gibt wohl keinen besseren Beweis für den Realismus", folgert der Philosoph schlüssig, "also dafür, dass die Wirklichkeit ganz unabhängig von unseren Erkenntnissen existiert." Wahrlich! Über die Wirklichkeit fährt die Eisenbahn drüber - egal, was in den Zeitschriften, die darin gelesen werden, über sie geschrieben steht. Und selbst ihr Schienensuizid, sollte sie inzwischen einen solchen begangen haben, hätte wohl "ganz unabhängig von unseren Erkenntnissen" stattgefunden.

Noch schlechter als "a Stan am Schädl": die Moralkeule!

Um endlich auch meine lange Zeit ausgefeilten Positionen und Wahrheiten bestätigt zu sehen, könnte ich nun etwa die Beobachtung anstellen, dass ein "Cocktail aus scheinbarer wissenschaftlicher Objektivität und moralischer Überlegenheit" ("In der Pandemie sitzt die Moralkeule locker", NZZ vom 30. April, S. 13) in Krisensituationen immer noch hilfreicher sein dürfte als ein Cocktail aus von Marktgläubigkeit geleiteter Wissenschaftsskepsis und scheinbarer amoralischer Abgeklärtheit, die nur der eigenen ökonomischen Überlegenheit geschuldet ist. Des Weiteren könnte ich bemerken, dass das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts einen Preis haben kann, der höher ist als sein Nutzen. In dieser Hinsicht weckte in der Wiener Zeitung ein behüteter WU-Professor mit einer eindringlichen Warnung vor einem gewissen Jason Hickel, von dem ich bislang nichts gehört hatte, mein Interesse für eben diesen ("Der gefährliche Mr. Degrowth", WZ vom 9. April, S. 10), und tatsächlich: Explicit Lyrics! Dieser unverschämte Jason Hickel lästert gegen die - wie doch längst allen bekannt sein müsste! - "umwelt- und ressourcenschonende [...] Dynamik der Marktwirtschaft" (NZZ vom 15. März, S. 9) und hat auch zu gängigen neoliberalen Annoncen vom Schwinden der Armut im Kapitalismus gefährliche Gegendarstellungen zu bieten**.

Elend der Philosophie

Ausgebeutet und zugemüllt zu werden, ist im Kapitalismus bekanntlich nicht nur das Schicksal der Natur. Auch der Mensch, der sich nach getaner Arbeit mit aus allen kommerziellen Medienkanälen rieselndem Content zu unterhalten hat, steht am Rande der Erschöpfung. Würde eine begabte Ökonomin es schaffen, neben der Umweltzerstörung auch noch die innere Weltverarmung entfremdeter Subjekte in die Bilanzen zu rechnen, als was für Hungerleider stünden wir dann erst da! Auch das empfindlich Harte an den Fakten kann in einen surrealen Alptraum versponnen sein, insbesondere, wenn es um gesellschaftliche Realitäten geht. Der Schmerz ist unleugbar real, aber das, was ihn hervorruft, bisweilen gerade das Fiktionale. Letztendlich ist der neue wohl immer noch der alte, also kapitalistische Realismus, der den unruhigen Träumern einhämmern will: There is no alternative.

Filmtipp: Oekonomia (mit lohnenden Recherche-Links)


*) Erahnen lässt sich immerhin, dass früher oder später weitere schmerzhafte Rationalisierungsmaßnahmen auf die kapitalistisch-konsumistische Libidoökonomie zukommen dürften.

**) Anstatt die Warnung einfach nur in den Wind zu schlagen, lässt sich ihr vielleicht etwas produktiver hinterherhusten, indem auf den guten alten gefährlichen Mr. "Uneconomic Growth" Herman Daly verwiesen wird, dem zufolge ein sogenanntes "Wirtschaftswachstum" auf überwiegende Kosten der Umwelt eher als Misswirtschaftswachstum zu bezeichnen wäre. Oder wie es in der notorisch moralisierenden New York Times ausgedrückt wird: "If we can't make saving the planet pay as much as harming it did, then our economic philosophies have truly failed." ("A moonshot for meatless meat", NYT vom 29. April, S.10)





Weiterhin wird in der NZZ so routiniert über "Moral" hergezogen, als wär's eine in der Gosse aufgelesene Gazette für gewerbsmäßige Halunken und Sittenstrolche, die wir vor uns haben, und nicht eine konservative Schweizer Qualitätszeitung. Darin liegt möglicherweise eine gewisse Ironie der Geschichte, war doch gerade die Berufung auf Moral einst eine bevorzugte Waffe der Bürgerlichkeit, um sich gegen emanzipatorische Bewegungen zu verteidigen (zu denen sie selbst einmal zählte). Heute dient ihr zum nämlichen Zweck "Moral" nur noch als Schimpfwort. Rächt sie sich so für die damals erlittenen Kränkungen? Arbeitet sie ein Trauma auf? Hat sich die bürgerliche Moral nach langem Rückzugsgefecht in ihrer letzten Bastion verschanzt, kämpft sie dort nur noch um ihre pekuniären Werte? Galten weiland auch noch dem patriarchalen Reglement familiärer Sittsamkeit die größten Sorgen, sind sie heute nur noch auf die Keuschheit des Kapitals fixiert, an dem sich sozialromantische Unholde der institutionalisierten Marktmoral spottend vergreifen wollen. Liest man etwa die indignierten Kommentare zu plebiszitären Initiativen, mit denen die wachsende Ungleichheit der Vermögen durch eine höhere Besteuerung von großen Kapitaleinkommen ausgeglichen werden soll, entsteht in der Imagination unwillkürlich ein Klischeebild von der Zeit vor gut 100 Jahren, als es vielleicht noch um unverschämte Forderungen nach einem Frauenwahlrecht ging: Bei der Lektüre der Leitartikel seines reaktionären Lieblingsblatts knarzt dem von wohliger Entrüstung bewegten Bourgeois das geknöpfte Leder des fetten Chesterfield-Clubsessels unter dem Hintern. Dass jetzt nicht mehr die Bohemiens, sondern gutbürgerliche Zeitungsabonnenten über Moral die Nase rümpfen, wäre im Grunde sehr lustig, aber der beste Witz flaut ab, wenn er mit der Penetranz einer Werbeschaltung wiederholt wird.

Genealogie der Moralkritik

Sogar eine Suhrkamp-Anthologie nimmt sich inzwischen ernsthaft des Phänomens an (Christian Neuhäuser u. Christian Seidel, Kritik des Moralismus). Geflissentlich differenzieren die Herausgeber zwischen Fällen von formal oder inhaltlich überzogener Moralität, die mitunter berechtigten Widerwillen auslöst, und haltlosen Versuchen, durch Moralismusvorwürfe "eingeschliffene unmoralische Lebensstile zu rationalisieren oder gegen Kritik zu immunisieren." Als hätte man es nicht geahnt! Als hätte man nicht schon geahnt, "dass die oft schon reflexartige Klage über Moralismus keine Entlastung von der Frage nach dem guten Leben und der richtigen Politik bringen kann." (Finde ich auch ganz schlimm, SZ vom 15. Dezember 2020) Außer natürlich, man definiert sich das gute Leben durch nichts Besseres als die eigene Bonität und geht auf die normative Selbstbestimmung mündiger Menschen pfeifend davon aus, dass der Markt alles "overrulend" immer recht hat. Würde ein stolzes Flaggschiff der bürgerlichen Qualitätspresse tatsächlich jegliche Moral über Bord werfen, um sich allein den Gesetzen von Angebot und Nachfrage anzuvertrauen, könnte man ihm jedenfalls nur wünschen, dass es niemals kentert und mit dem Wundarzt Jean-Baptiste Henri Savigny, der auf dem Floß der Medusa mit den Schrecken der Menschenfresserei konfrontiert war, feststellen muss: "L'énergie morale est bien plus nécessaire que la force physique."

O tempora, o mores!

"Wohin man blickt, nichts als erhobene Zeigefinger", tönt es derweil noch larmoyant vom Promenadendeck des Feuilletons ("Die Moral ist eine schlechte Ratgeberin", NZZ vom 27. August, Seite 7), bis sich das Gesülze am Ende selbst zu einem Imperativ versteift: "Wo Moral ist, muss Vernunft werden." Hätte der gute Kant diesen Satz gelesen, wäre er wohl, von plötzlicher Reiselust gepackt, aus Königsberg in Richtung Zürich aufgebrochen, um dem Verfasser die zweite seiner drei Kritiken um die Ohren zu hauen. Und ihm aus der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" vorzulesen: "Ein jegliches Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Prinzipien zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlung von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anders als praktische Vernunft." Zwei Dinge erfüllen ja das Gemüt eines NZZ-Feuilletonisten mit immer neuer und zunehmender Beklemmung und Abneigung, je öfter und anhaltender sich sein Nachdenken damit beschäftigt: die Steuerprogression über ihm und das moralische Gesetz in den anderen. Ja, wieso soll ich andere Menschen nicht nur als Mittel, sondern als Zweck an sich betrachten und, indem ich mich meines eigenen Verstandes bediene, nach derjenigen Maxime handeln, durch die ich zugleich wollen kann, dass sie allgemeines Gesetz werde, wenn ich, um an meinem Kontostand nicht zweifeln zu müssen, doch nur will, dass das bestehende Gesetz des Marktes zur allgemeinen Maxime des Handelns werde?

Apostel der Zahlungsmoral

Aus dieser Sicht kann auch eine höhere Besteuerung der weiteren Zuwächse von bereits abstrus hohen Vermögen nicht als Gebot der Vernunft, sondern nur als "Moralismus" gelten, der "ein diffuses Ressentiment gegen die bösen Reichen schürt." Wenn das reichste Prozent der Bevölkerung inzwischen über 40 Prozent der Vermögen besitzt, muss man dazu mit dem Chefökonomen der NZZ auch klar feststellen: "Diese Ungleichheit ist nicht unfair" (NZZ vom 18. September, S.1). Zwar laufen die Gegenargumente zu Vorschlägen einer ausgleichenden Besteuerung wie der 99-Prozent-Initiative oft nur darauf hinaus, dass sie auch die Falschen treffen würde, womit impliziert wird, dass es für eine treffsichere Besteuerung auch die Richtigen gäbe, aber es muss in jedem Fall festgehalten werden: "Superreiche sind kein Freiwild" (NZZ vom 11. Juni, Seite 15). Gewiss nicht! Und das Kapital ist auch kein scheues Reh, das mit Futterkrippen an den Standort gebunden werden muss, geschweige denn ein hungriger Prädator auf der Suche nach Beute. Kapitaleinkommen wie Dividenden, Kursgewinne oder Erträge aus Immobilienspekulationen sind schließlich das Gegenteil von leistungsfreien Profiten, und was heißt hier "Geld arbeitet nicht"? Gehen die fetten Frankenscheine nicht mit ihren Jausenbroten täglich auf dünnen Beinchen in die Fabrik, um die Realwirtschaft mit Investitionen anzukurbeln? Oder machen sie etwa Feierabend und vergnügen sich im globalen Kasino der Finanzmärkte?

Das eine Prozent und sein Eigentum

Aber auch Spekulation hat zu Unrecht einen schlechten Ruf, glaubt man einer NZZ-Kolumnisten, die sich auf keinen anderen als Thales von Milet beruft ("Kluge Spekulanten", NZZ vom 14. September, Seite 21). Durch seine astronomischen Kenntnisse sah er einer Anekdote zufolge eine reiche Olivenernte voraus und machte ein großes Geschäft, indem er in Ölpressen investierte. Die Kolumnistin folgt nun nicht Aristoteles, einem bekannten Anhänger der Chrematistik, in seiner Überlieferung, dass Thales bewiesen habe, "dass es für Philosophen leicht sei, reich zu werden, wenn sie nur wollten, es jedoch dies nicht sei, wonach sie strebten", sondern sieht die Moral der Geschichte vielmehr darin, dass Reichensteuern schädlich seien, weil sie die klugen Spekulanten davon abhalten würden, zur "Wissensvermehrung und zum Wohlstand" beizutragen. Da lacht vermutlich nicht nur die thrakische Magd.

Flow-Erlebnisse des Frankenscheins

Während selbst das Kapital eines Leichnams noch Einkommen erzielen kann, lässt sich wohl mit Fug und Recht diagnostizieren, dass noch am Leben ist, wer arbeitet ("Wer arbeitet, ist nicht tot", NZZ vom 11. September, Seite 21). Mitgerissen vom Überschwang, mit dem hier ein Wirtschaftspublizist seinen Lobgesang auf die Werktätigkeit anstimmt, fragt man sich gar nicht, ob allein schon wegen der schwer zu bremsenden Geschäftigkeit, mit der alle greifbaren Ressourcen dieses Planeten abgebaut, in Warenform transformiert und nach möglichst kurzem Gebrauch ihrer Obsoleszenz auf den Müllhalden dieser Welt zugeführt werden, nicht auch die Kunst des Müßiggangs auf den Lehrplänen stehen sollte. Da trifft es sich gut, dass in selbiger Zeitung auch mit der "Mär von den endlichen Rohstoffen" aufgeräumt wird ("Das Ende der Welt und was danach kommt", NZZ vom 25. Juni, Seite 13), denn der größte Mangel herrsche schließlich nur "bei der Vorstellungskraft, wie marktwirtschaftliche Prinzipien und neue Technologien alte Probleme überwinden." Wer arbeitet, ist nicht tot, hat sich vielleicht aber bald zu Tode geschuftet. Ob jener von Flow-Erlebnissen schwärmende Publizist mit den Widrigkeiten prekärer Arbeitsrealitäten vertraut ist, bleibt offen, wenn er für die Allgemeinheit geltend macht, "besser eine schlechtere Arbeit als gut bezahlte Arbeitslosigkeit", aber zumindest erfolgreiche Börsen- oder Immobilienspekulanten werden ihm zustimmen, wenn er schreibt: "Zahlungsbereitschaft lässt mich den ‚gesellschaftlichen Wert' meiner Arbeit spüren." Ja, zumindest das Geld, das arbeitet, wird seinen Job sicher weder von Entfremdung geprägt noch als "Bullshit" empfinden. David Graebers bekannte These zu letzterem sei widerlegt, wird eine Studie zitiert, die vielleicht aber nur zeigt: Ob ein Job subjektiv als sinnlos eingeschätzt wird, hängt davon ab, wie weit gefasst die Frage nach dem Sinn gestellt wird. Für andere Zahnrädchen im Betrieb mag das meinige durchaus eine Funktion erfüllen, auch wenn uns die ganze Maschine, in der wir stecken, sinnlos oder gar widersinnig erscheint. Wenn erst alle von Midlife-Crisis geplagten Investmentfonds-Manager auf Bio-Bauer umgesattelt haben, wird die Welt jedenfalls eine bessere sein.

"Es besteht immer die Möglichkeit, dass sich das Geld in einen moralischen Imperativ verwandelt. Lässt man dies zu und breitet sich diese Einstellung aus, so kann sie sich rasch in eine alles beherrschende Moral verwandeln, so dass alle anderen moralischen Gebote im Vergleich dazu albern wirken." (David Graeber, Schulden. Die ersten 5.000 Jahre, S. 406, München 2014)

Epilog

"Wir müssen wahre Sätze finden", heißt es bei Ingeborg Bachmann, und es ist bemerkenswert, dass gerade der Autor des Buches "Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung" tatsächlich einen gefunden zu haben scheint, wenn er - obzwar etwas holprig - schreibt: "Antikapitalismus ist eine Überzeugung, die stark bei Menschen mit linken Überzeugungen verbreitet ist." ("Neid schürt Verschwörungsdenken und sucht Sündenböcke", NZZ vom 14. September, Seite 18) Zumindest die Ehe, diese etwas verstaubte Institution, steht nun endlich auch in der Schweiz für alle offen. Vielleicht damit jeder Mensch in Erfahrung bringen kann, was von jenem Autor an anderer Stelle schon festgehalten wurde: dass den Kapitalismus "nicht mit den realen historischen Erfahrungen sozialistischer Experimente" zu vergleichen, sondern mit der vagen Utopie einer gerechten Gesellschaft, "genauso fair [ist], wie wenn man seine Ehe nicht mit anderen Ehen vergleichen würde, sondern mit romantischen Schilderungen in Groschenromanen aus der Bahnhofsbuchhandlung."

Archivtipp: "Fünfundzwanzig Jahre Kampf gegen Schundliteratur" (NZZ vom 13. Januar 1912, zweites Morgenblatt, Seite 1f.)




Die Corona-Pandemie zeigt es besonders deutlich: Darüber, was als unantastbare Freiheit verstanden und vehement verteidigt werden muss, herrscht alles andere als Einigkeit. Das war wohl im Grunde immer schon so und ist es auch heute in vielerlei Hinsicht. Was den einen als Gebot der Vernunft und der Solidarität erscheint, dem man sich gerne unterwirft, erleben andere als Angriff auf ihre höchstpersönlichen Freiheitrechte. Diese können offenbar im Dürfen von allem möglichen Tun-und-lassen-wollen bestehen, also nicht nur darin, die Impfung gegen einen global grassierenden Krankheitserreger zu verweigern, sondern etwa auch hemmungslos klimaerwärmende Gase in die Luft zu blasen, oder von demokratiepolitischen Regulierungen unbeschränkt über gesellschaftlich maßgebliche Produktionsmittel zu verfügen. Letzteres ist das Anliegen einer Denkschule, die so erfolgreich darin ist, ökonomische Herrschaft als Freiheit zu vermarkten, dass sie gemeinhin Liberalismus genannt wird.

Ne laissez pas voter

Und bisweilen geben die sogenannten Liberalen auch ganz unverblümt einen Ausblick auf die Freiheit, die sie meinen: "Wer die Freiheit vor ihrer Abschaffung schützen will, muss bereit sein, das Prinzip der Demokratie einzugrenzen, ohne es abzuschaffen." ("Unbegrenzte Demokratie mündet in Knechtschaft", NZZ vom 29. Oktober, Seite 17) Ziel ist also vielleicht nicht ganz eine wirtschaftsliberale Diktatur, wie von General Pinochet in Chile vorexerziert, aber in diese Richtung sollte es schon gehen. Schließlich gilt: "Mehrheiten tendieren dazu, durch staatliche Umverteilung auf Kosten produktiver Minderheiten leben zu wollen." Wer diese produktiven Minderheiten sind, verrät der Autor allerdings nicht. Es kann daher nur gemutmaßt werden: vielleicht chronisch überarbeitetes Krankenhauspersonal? Alleinerziehende Mütter? Schweizer Schokoladefabriksarbeiterinnen und -arbeiter? Oder etwa Publizisten neoliberaler Denkfabriken? Die Frage bleibt leider offen.

We are the one percent

Zweifellos ist der Schutz von Minderheiten in einer Demokratie äußerst wichtig. Und ob nun produktiv oder nicht - die erste Minderheit, an die wir hier gedacht wird, ist gewiss allzu selten diejenige der von Dividenden, Zinsen, Kursgewinnen und Immobilienerträgen lebenden Rentiers. Wer schützt diese armen Leute vor Steuern, die ihnen vom minderbemittelten Stimmpöbel gewählte Parteien auferlegen? "Eine Kombination von Liberalismus und Demokratie ist nur möglich, wenn Mehrheiten zuverlässig und auf die Dauer dafür zu gewinnen sind, eine Ordnung aufrechtzuerhalten, welche Leben, Eigentum und Freiheit wirksam schützt" - möglichst unauffällig drängelt sich hier das Eigentum zwischen Leben und Freiheit und tut einfach so, als gehörte es dazu - "und den Wettbewerb um die individuell zusagenden Lebensformen und Lebensinhalte für alle offenhält" - wobei der Wettbewerb selbst als allen individuell zusagende Lebensform für den Autor natürlich feststeht. Vielleicht sollten Stimmrechte frei gehandelt werden, damit auch die Politik über den Markt effizient geregelt wird! Würde das Prinzip der Demokratie derart auf ihre exklusive Ausübung durch die Vermögenden eingegrenzt, stünde uns die ganze Welt sicher bald so offen wie das Ufer eines von eingezäunten Privatgrundstücken umschlossenen Kärntner Sees. Und alle würden sich so frei - oder zumindest liberal - fühlen wie ein Fisch in dessen Wasser.

Just another word for nothing left to lose

"Ohne praktischen Handlungsspielraum verkommt Freiheit zu einem theoretischen Konstrukt", ist sogar auf der Meinungsseite der NZZ zu lesen ("Die Politik geht fahrlässig mit unserer Freiheit um", NZZ vom 11. Dezember, Seite 22). Moniert wird hier ausnahmsweise nicht die staatliche Einmischung in bürgerliche Belange, sondern es werden ganz im Gegenteil eine Reihe von behördlichen Maßnahmen aufgezählt, die notwendig gewesen wären, um den Handlungsspielraum in der Pandemie zu erhöhen, angefangen beim "Ausbau der Intensivpflegekapazitäten". Kommt das nicht schon gefährlich einem Seuchen-Sozialismus nahe? "Der Liberalismus zerbricht gerade an seinen eigenen Widersprüchen", merkt in der Süddeutschen Nele Pollatschek zur Debatte um die Impfpflicht an, denn "[w]er Freiheit will, darf sie nicht ideologisch in die Unmöglichkeit verteidigen" und "[w]enn es um für das Gemeinwohl existenzielle politische Fragen geht, muss man kleinere Einschränkungen der Freiheit in Kauf nehmen, um größere Freiheitseinschränkungen zu verhindern." ("Die Freiheit der Anderskränkelnden", SZ vom 13. Dezember, Seite 9) Für die Autorin noch zu wünschen übrig bliebe, dass daraus gelernt wird und sich etwa die Erkenntnis durchsetzt, "dass es keinen Schutz, sondern eine Gefahr für die Freiheit darstellt, Verbote im Klimaschutz kategorisch auszuschließen".

Verurteilt, frei zu sein

Ganz so weit ist man in der NZZ allerdings noch nicht. Dort wird von einem deutschen Autor und Philosophen vielmehr ein feuriges "Plädoyer gegen den Machbarkeitswahn" gehalten, denn schließlich würden "[m]asslose Weltverbesserungsmanien drohen, unsere Gesellschaft in einen durchnormierten, autoritären, reglementierten und überwachten Alptraum zu verwandeln". ("Einmal Paradies, bitte!", NZZ vom 3. November, Seite 32) Freiheit beginnt also nicht etwa damit, sich Alternativen bewusst zu machen. Das eigentliche Problem am Klimawandel bestehe vielmehr darin, ihn aufhalten zu wollen, also im "grassierenden Glauben an die Umbaufähigkeit der Welt", dem gegenüber einfach an der emanzipatorisch errungenen Erkenntnis festgehalten werden sollte: "Erst Fatalismus macht frei." Klingt bedenklich nach der Abwandlung eines zynischen Willkommensgrußes, ist aber vermutlich mehr als Slogan für eine SUV-Werbung gedacht: Selbst wenn der Meeresspiegel noch so hoch steigt, ein paar Passstraßen in den Alpen werden immer noch frei befahrbar sein - vielleicht sogar durch Palmenalleen!

Optionsrecht auf Aussichtslosigkeit

Aber Fatalismus allein reicht leider nicht, frei wird man in unserer Gesellschaft erst durch viel Geld. Zumindest frei von Existenzängsten, vom Zwang, sich in Scheißjobs herumzuschlagen oder auf dem Arbeitsamt entwürdigen zu lassen, von Schulden, Wohnungsnot und sonstigem armutsbedingten Mangel an Möglichkeiten. Theoretisch also auch frei, den eigenen Interessen nachzugehen. Nur besteht offenbar das primäre Interesse derer, die viel Geld haben, schnöderweise darin, es noch weiter zu vermehren. Oder zumindest zu verhindern, dass die anderen auch so viel Geld bekommen, dass niemand mehr als Lakai zur Verfügung stehen müsste. Der vielgepriesene Reichtum im Kapitalismus braucht allem Anschein nach Armut, um nicht bedeutungslos zu werden. Diese ganze Herr-Knecht-Dialektik am Laufen zu halten, stellt letztlich auch für die Reichen harte Arbeit dar! Die exklusive Freiheit gibt es nur im goldenen Käfig*.

Wer hat, dem wird gegeben

Das scheinbar Gegensätzliche zu verbinden, darauf gilt es sich besonders in der Vorweihnachtzeit zu besinnen. Und sogar zwischen Nächstenliebe und Konkurrenzdenken "finden sich durchaus Brücken", fasst man sich nur ein Herz und löst sich "von der allzu harmonischen Vorstellung des Ideals der Brüderlichkeit oder Geschwisterlichkeit", gibt im Advent ein "Titularprofessor für Ethik" den Schweizer Kirchen zu bedenken, die ja - nach ihrem jüngsten Engagement für auf mehr Konzernverantwortung abzielenden Initiativen zu schließen - geradewegs in urchristlichen Kommunismus zurückzufallen drohen ("Das Christentum und der ‚Kapitalismus'", NZZ vom 8. Dezember, Seite 19). Dabei kann sogar die Legende vom heiligen Martin, der angesichts eines frierenden Bettlers seinen Mantel zerschnitt und eine Hälfte dem Bedürftigen schenkte, als Zeugnis für ein mit dem Kapitalismus versöhntes Christentum herangezogen werden: "Die Marktwirtschaft gibt zwar keine Almosen, aber sie ist sozial: Sie produziert viele Mäntel, damit kein Mangel besteht." Dem Allmächtigen und seiner unsichtbaren Hand sei Dank! Und geht angeblich eher ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt, so zeigt dies zweifellos mit derselben bestechlichen Logik, wie gesegnet der Kapitalismus doch ist, denn es müssen ja überhaupt erst genug Nadeln samt Öhren produziert werden! Durch eines der letzteren geht zumindest der Faden, mit dem der Kamelhaarmantel des Reichen genäht wird. Vielleicht von einem in einer fernöstlichen Textilfabrik gegen Schinderlohn schuftenden Mädchen? Auch an Mänteln des Schweigens besteht zum Glück der Titularprofessoren für Ethik kein Mangel.

A Christmas Carol

Folgt man einer Argumentation von David Graeber, dann müssten wir, um ein sicheres Ende des Kapitalismus herbeizuführen, nur alle zu seinen überzeugten Anhängern werden. Würden etwa alle Menschen auf der Welt zu Weihnachten das Buch "Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung" geschenkt bekommen und nach umgehender Lektüre der titelgebenden These zustimmen, hätten wir mit unserer auf grenzenloses Wachstum und unendliche Renditen spekulierenden Euphorie wahrscheinlich schon zu Ostern alle Börsen dieser Welt zum finalen Einsturz gebracht. Der Autor besagten Buches könnte also durchaus umstürzlerischer Ambitionen verdächtigt werden, auch weil er folgende luzide Lehre aus der Geschichte zu ziehen nicht müde wird: "Nachdem ausnahmslos alle sozialistischen Experimente in den vergangenen hundert Jahren gescheitert sind, sollte klar sein, dass wir keine neuen brauchen." ("Die Idee vom ‚richtigen' Sozialismus ist ein Irrglaube", NZZ vom 21. Oktober, Seite 16) Nach Karl Polanyi ist Sozialismus zwar "die einer industriellen Zivilisation innewohnende Tendenz, über den selbstregulierenden Markt hinauszugehen, indem man ihn bewusst einer demokratischen Gesellschaft unterordnet" und kann demnach schwerlich scheitern, aber wenn diese Tendenz sogar schon dazu geführt hat, dass fiskalisch bedrängte Bestseller-Philosophen wie Peter Sloterdijk von einem westlichen "Semi-Sozialismus" sprechen, und sogar Graz mittlerweile von Kommunisten regiert wird, dann ist es wohl dringend geboten, die Alternativlosigkeit des Kapitalismus zu seinem eigenen Schutze weiterhin gründlichst in Frage zu stellen! **


*) "Bei den Liberalen", beschrieb schon der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi in seinem 1944 erschienenen Hauptwerk The Great Transformation, "sinkt [...] die Freiheit bloß zu einer Befürwortung des freien Unternehmertums herab, das heute durch die harte Wirklichkeit der gigantischen Trusts und fürstlichen Monopole zu einer Fiktion gemacht wird. Dies bedeutet die Fülle der Freiheit für jene, deren Einkommen, Muße und Sicherheit keiner Steigerung bedürfen, und einen kümmerlichen Rest von Freiheit für das Volk, das vergeblich versuchen mag, seine demokratischen Rechte dazu zu benützen, um sich Schutz vor der Macht der Besitzenden zu verschaffen." Das liberale Verständnis von Freiheit präsentiert sich im Endeffekt "nur als ein schon vom Ansatz her pervertiertes Recht der Privilegierten", basierend auf einem merkwürdigen anthropologischen Mythos, denn: "Die Neigung zum Tauschhandel, auf die sich Adam Smith in seinem Bild vom Naturmenschen so vertrauensvoll stützte, ist keineswegs ein allgemeiner Wesenszug des Menschen in seiner wirtschaftlichen Aktivität, sondern ein äußerst seltener." Dies bestätigte unlängst wieder der Anthropologe David Graeber in seiner materialreichen historischen Studie Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Graeber führt die liberale Vorstellung von Freiheit als ökonomische Verfügungsgewalt auf die antike Sklavenhaltergesellschaft zurück, die über tradierte Begriffe des römischen Rechts auch unsere heutige Gesellschaft noch prägt: "Es gibt eine direkte Verbindungslinie von der neuen römischen Auffassung von Freiheit - nicht als Fähigkeit, wechselseitige Beziehungen mit anderen aufzubauen, sondern als eine Art von absoluter Macht über ‚Gebrauch oder Missbrauch' der gefangengenommenen mobilen Sklaven, die den Haushalt eines wohlhabenden Römers bevölkern - zu den eigenartigen Vorstellungen liberaler Philosophen wie Thomas Hobbes, John Locke oder Adam Smith über den Ursprung der menschlichen Gemeinschaft als einer Ansammlung von 30- oder 40-jährigen Männern, die anscheinend voll entwickelt der Erde entsprungen sind und dann entscheiden müssen, ob sie sich gegenseitig umbringen oder Biberfelle zu tauschen beginnen sollen."

**) Und etwa mit Karl Kraus zu poltern: "Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer eigenen lebensschänderischen Ideologie, immerhin von Gnaden eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck - der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren Bewahrung und mit dem Trost, dass das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich Genussberechtigten, die da glaubt, dass die ihr botmäßige Menschheit genug der Liebe habe, wenn sie von ihnen die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit einem Alpdruck zu Bette gehe!" (Die Fackel, November 1920)






Dies ist eine nicht-kommerzielle literarische Publikation von Mathis Zojer, Wien - Radio Irreparabel auf Orange 94.0